Verhalten, Verhaltensfehler

Fehler können an verschiedenen Stellen des Handlungsablaufs auftreten: bei der Wahrnehmung und Beurteilung der Situation (z. B. Einschätzung einer Kurve durch einen Autofahrer), bei der Entscheidung zwischen mehreren möglichen Aktionen (z. B. Bremsen, Beschleunigen) und bei der Ausführung der Aktion (z. B. zu starkes, zu schwaches Bremsen). Fehlerhaftes und sicherheitsabträgliches Verhalten von Mitarbeitern wird häufig mit folgender Formel erklärt: "Nicht wissen, nicht können, nicht wollen". Daher versucht man oft, durch Unterweisung, Schulung und Aufklärung über Gefährdungen und mögliche Folgen für Gesundheit und Sicherheit zu informieren. Appelle, Ermahnungen, Lob, Tadel und lerntheoretisch aufgebaute Verstärkerprogramme (z. B. Prämiensysteme) sollen zu sicherem Verhalten motivieren. Auch Sicherheitszirkel und Gesundheitszirkel sowie andere gruppenbezogene und partizipative Ansätze werden mit diesem Ziel eingesetzt. Zweifellos können derartige Bemühungen das Wissen, die Fertigkeiten und Einstellungen der Mitarbeiter verbessern. Allerdings greift eine Konzeption, die die Probleme ausschließlich im "Nicht wissen, nicht können, nicht wollen" der Mitarbeiter sieht, zu kurz. Denn sie unterstellt,
  • dass die vorausgegangenen und beobachtbaren Handlungsfehler, Fehleinschätzungen usw. die alleinigen Unfallursachen sind
  • dass die Ursachen für Fehlverhalten ausschließlich beim Mitarbeiter liegen
  • dass sich Handlungsfehler vermeiden lassen, wenn man den Mitarbeiter nur intensiv genug über Gefahren informiert und zu fehlerfreiem, d. h. sicherem Arbeiten motiviert.
Diese Annahmen sind aber keineswegs zutreffend. Das Verhalten des Menschen ist nicht grenzenlos steuer- und manipulierbar. Dies ergibt sich schon aus den biologisch-physiologischen Leistungsgrenzen. Unsere Wahrnehmung mit den Sinnesorganen ist subjektiv gefärbt und fehlerbehaftet und liefert keineswegs ein objektives Bild der Realität. Grenzen gibt es auch hinsichtlich der Aufmerksamkeit. Kein Mensch ist in der Lage, seine Aufmerksamkeit über längere Zeit konstant auf hohem Niveau zu halten. Es kommt zu unwillkürlichen Schwankungen. Die biologisch-physiologischen Leistungsgrenzen (begrenzte Informationsverarbeitungskapazität und -geschwindigkeit, Mindestzeitbedarf für neuro-muskuläre Reaktionen, eingeschränktes zeitliches Auflösungsvermögen der Wahrnehmung usw.) entziehen sich weitgehend rationaler Kontrolle und sind durch verhaltensbeeinflussende Maßnahmen allenfalls hinauszuschieben, aber nicht zu beseitigen. Werden durch die Anforderungen der Arbeitssituation die menschlichen Leistungsgrenzen überschritten, dann ist das "Versagen" zwangsläufig. Bedingungen, die zu Handlungsfehlern beitragen, können in allen Teilen des Arbeitssystems liegen. Fehlverhalten darf nicht losgelöst von den komplexen Bedingungen des Mensch-Maschine-Umwelt-Systems betrachtet werden (Systembetrachtung, Systemsicherheit). Ein bestimmtes Verhalten wird erst unter bestimmten Bedingungen zu Fehlverhalten. Gestaltungsmängel bei Maschinen und Geräten können den Informationsfluss zwischen Mensch und Maschine stören. Merkmale der Arbeitsumwelt und die Signalisierung von Gefahren können Wahrnehmungsfehler bewirken. Ferner können Aufgabenstruktur, Arbeitsorganisation und Arbeitsbedingungen (z. B. Monotonie, Zeitdruck) Handlungsfehler fördern. Zu Fehlhandlungen und Handlungsfehlern kann es auch dann kommen, wenn das korrekte Verhalten mehr Aufmerksamkeit und psychische Energie erfordert als das fehlerhafte oder wenn geforderte Handlungen mit Gewohnheiten und fest eingeschliffenen und automatisierten Bewegungs- und Wahrnehmungsstereotypien nicht übereinstimmen. Beispiel: Einen Schalter nach rechts zu drehen, wird üblicherweise mit der Erwartung verknüpft, dass etwas eingeschaltet oder größer, lauter, heller wird. Wird eine Handlung gefordert, die dieser Erwartung widerspricht, kann es leicht zu Handlungsfehlern kommen. Auch soziale Faktoren können Ursachen für Verhaltensfehler sein. Schon die Anwesenheit anderer Menschen kann die Wahrnehmung von Gefahren beeinflussen und riskantes Verhalten begünstigen. Das Verhalten anderer Menschen kann den Eindruck stärken, dass keine Gefahr vorhanden ist. Handlungsfehler können also viele Ursachen haben. Sie sind nicht einfach nur Ergebnis bewusster Entscheidung (Nichtwollen) oder Bequemlichkeit. Unfälle geschehen zwar vor Ort in der konkreten Arbeitssituation. Ihre Ursachen können aber ganz woanders liegen, nämlich auf den verschiedenen Hierarchieebenen des Betriebs, z. B. im Bereich des Personalmanagements. Auch bei der Planung und Organisation von Betriebs- und Arbeitsabläufen oder der Entwicklung und Konstruktion von Maschinen und Anlagen können Fehler gemacht worden sein, die die Unfallwahrscheinlichkeit erhöhen. Angesichts der vielfältigen Bedingungen für Handlungsfehler ist die Betrachtung des Systems Mensch-Maschine-Umwelt erforderlich. Dabei ist u. a. die Frage aufzuwerfen, inwieweit die bestehenden Verhältnisse (z. B. Struktur und Merkmale der Arbeitsaufgabe, technisch-organisatorische Bedingungen usw.) sicheres Verhalten stützen oder erschweren. Wichtig ist es auch zu ermitteln, inwieweit die Arbeitsaufgabe Fehlverhalten herausfordert, weil der Mitarbeiter sie dadurch leichter, bequemer, schneller usw. erledigen kann. Fehler sind eine geeignete Lernquelle und haben positive Effekte, wenn man sie entsprechend analysiert und zur Verbesserung der Systemsicherheit nutzt. Darauf sollten sich Unternehmen konzentrieren, statt "Sündenböcke" zu suchen.

Quellen

www.arbeit-und-gesundheit.de