"Sich Hilfe zu holen ist ein Beweis von Stärke"

Seelische Gesundheit von Frauen

Die Mehrfachbelastungen aus Privat- und Berufsleben führen Frauen oft an ihre Grenzen – und darüber hinaus. Über die Gründe, die Anzeichen und über ihre Unterstützungsangebote für Mitarbeiterinnen sprechen im Rewe-Magazin „One“ Anette Bangert und Dr. Antje Lumma-Sellenthin, beide BAD-Beraterinnen Gesundheitsmanagement.

   Vorweg die Frage: Beraten Sie Frauen anders als Männer?

 Antje Lumma-Sellenthin: Nein. Der Hauptunterschied, den wir als Beraterinnen bemerken, liegt darin, dass Frauen unser Beratungsangebot viel öfter in Anspruch nehmen…

 Anette Bangert: … das kann ich bestätigen…

 Antje Lumma-Sellenthin: …  und trotzdem kommen sie aus beraterischer Sicht oft zu spät, um ihr Anliegen mit unserer Hilfe selber zu lösen. Leider haben wir relativ oft mit Menschen zu tun,die aufgrund der Schwere ihrer Belastungen im Grunde eine Psychotherapie oder eine Auszeit bräuchten. Frauen im Speziellen kommen vor allem, wenn sie mit den Auswirkungen von Stress und Mehrfachbelastung zu kämpfen haben.

 Anette Bangert: Ja, bei Frauen sehen wir verstärkt die Thematik, dass sie deutlich mehr in diesem Spagat zwischen Arbeit und Privatleben stehen, ob Kindererziehung oder Pflege der Eltern. Auch nach vielen Jahren der Gleichberechtigung liegt die Belastung immer noch eher bei den Frauen.


  Ist das die Kehrseite der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben?

 Antje Lumma-Sellenthin: Das könnte vor allem mit einer inneren Verpflichtung zu tun haben. Viele Marktmitarbeiterinnen zum Beispiel machen ihren Job seit 20, 30 Jahren und das sehr gerne, sie sind mit Freude dabei, sie mögen das Umfeld, die Kolleg:innen, die Regelmäßigkeit. Die Arbeit bildet eine Konstante in ihrem Leben. Im Vordergrund steht für sie oft, Job und Kita- oder Schulzeiten übereinander zu bringen. Im Normalfall klappt das gut, aber während Corona brach das sorgsam austarierte Gleichgewicht bei vielen zusammen.

 Anette Bangert: Vielleicht ist Mehrfachbelastung tatsächlich die Kehrseite von Vereinbarkeit. Ich nehme oft wahr, dass Frauen immer noch vor allem sich selbst in der Verantwortung sehen, für die Kinder da zu sein.

 Antje Lumma-Sellenthin: Die Frauen in unserer Beratung sagen oft: ‚Ich werde an allen Fronten gebraucht‘, und gehen über die eigenen Grenzen, anstatt zu sagen: ‚Das ist mir zu viel, ich geb was ab‘.


 Läuft denn ohne uns Frauen wirklich nichts?

 Antje Lumma-Sellenthin: Ich denke, es gibt immer Fälle, wo es ohne die Frau nicht geht. Aber manchmal ziehen wir Frauen uns auch schlicht den Schuh an, dass wir uns um alles kümmern müssen und nicht abgeben können. Und darauf haben wir dann unser Umfeld entsprechend trainiert.


 Ob hausgemacht oder nicht: Wie spüren Frauen denn diese Mehrfachbelastung?

 Antje Lumma-Sellenthin: Meist durch körperliche Signale. Das können Kopfschmerzen sein oder Schlafstörungen, Depressionen oder einfach dauerhaft schlechte Laune. Wir raten immer, auf die Signale zu hören, und sie und damit sich selbst ernst zu nehmen.

 Anette Bangert: Das setzt natürlich voraus, sich selbst zu erlauben, diese eigenen Bedürfnisse auch ernst zu nehmen. Wir Frauen neigen schnell dazu, sie als nicht so wichtig abzutun. Aber: Nur wenn wir sie selbst wahr- und ernst nehmen, dann wird auch unser Umfeld sie wahr- und vor allem ernst nehmen.

Und zu eben dieser Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse ermutigen wir in unserer Beratung. Man muss wissen, wir arbeiten nach einem systemischen Ansatz. Das heißt verkürzt: Wir schauen ganzheitlich, wo sind die Ressourcen, wo lassen sich Veränderungen ansetzen. Und wer bei sich etwas verändert, verändert auch das System. Das kann das System Familie sein oder die Arbeit. Wenn jemand einen Stein ins Rollen bringt, kann das eine Veränderung nach sich ziehen. Aber dafür braucht es oft Kraft und Mut – und das ist manchmal schwierig.


 Wie nehme ich denn meine Bedürfnisse wahr – und eben auch ernst?

 Antje Lumma-Sellenthin: Ganz oft eben über die körperlichen Symptome. Fast alle Frauen, die anrufen, haben Schlafstörungen. Der Schlaf ist nicht mehr erholsam, sie wachen gerädert auf. Wir stellen keine Diagnose, aber wir raten dann in der Regel, innezuhalten, zur Ruhe zu kommen, um überhaupt wahrnehmen zu können, wo es hakt. Manchmal geht das nicht ohne eine Krankschreibung.

 Anette Bangert: Solch ein Vorschlag ruft häufig große Widerstände hervor. Sich krankmelden, das ginge nicht, man könne die Kolleg:innen nicht im Stich lassen…

 Antje Lumma-Sellenthin: Es gibt eine große Loyalität diesem Unternehmen gegenüber, das erleben wir immer wieder. Diese Verbundenheit mit dem Arbeitgeber und dem Team ist was Besonderes, das kennen wir so von kaum einem anderen Unternehmen, das wir betreuen. Aber das ist auch der Pferdefuß, dass man die Kolleginnen nicht im Stich lassen will und, wie gesagt, oft recht spät zu uns kommt.


 Recht spät wofür? Beziehungsweise, was wäre denn rechtzeitig?

 Antje Lumma-Sellenthin: Wenn ich einer Frau sagen muss: ,Bitte gehen Sie zum Hausarzt und lassen sich krank schreiben´, dann ist sie zu spät gekommen. Ich fände es schön, wenn sie so rechtzeitig käme, dass sie noch arbeitsfähig wäre und das mit Präventionskursen und unserer Beratung auch so bliebe. Wir sind ja in Stressbewältigung und Prävention geschult.

 Anette Bangert: Ideal wäre, wenn die Frauen anhand ihrer Symptome feststellen würden, so geht’s nicht mehr weiter. Zum Beispiel, wenn sich zuhause oder auf der Arbeit die Konflikte mehren. Konflikte können ein Gradmesser dafür sein, dass irgendwas im System gerade nicht rund läuft.


 Gibt es neben Körper und Konflikten weitere Anzeichen dafür, das frau sich Hilfe suchen sollte?

 Anette Bangert: Keine Lust mehr aufzustehen, ist auch ein Zeichen. Wir sprechen noch nicht von einer Depression, sondern darüber, dass mich alles anödet, langweilt, stresst. Oder wenn ich über eine ganze Zeit schlecht gelaunt bin, ich aber nicht weiß, warum.


 Ohne sichtlichen Grund über Wochen schlecht gelaunt sein, nur schleppend in den Tag kommen oder dauernd mit Kolleg:innen oder Kindern aneinandergeraten: Das würde schon reichen, um bei Ihrer psychosozialen Sprechstunde des BAD anzurufen?

 Antje Lumma-Sellenthin: Definitiv. Wichtig ist, dass Sie diese Zeichen, ob sie nun die Arbeit betreffen oder die pubertierenden Kinder, als Problem empfinden und selber das Anliegen haben, sich damit auseinander zu setzen.


 Was ist das Erste, was Sie hören, wenn sich jemand an Sie wendet?

 Antje Lumma-Sellenthin: Häufig hören wir: ‚Ich soll mich mal beraten lassen. Mir geht’s nicht gut, mir wurde gesagt, ich soll mir Hilfe holen.

 Anette Bangert: Und dieser Schritt auf uns zu ist der erste Schritt in Richtung Veränderung beziehungsweise Lösung. Es ist das Eingeständnis vor mir selbst, dass es so nicht mehr weiter geht. Indem ich mir Unterstützung hole, begebe ich mich auf den Weg und beginne, mich und meine Bedürfnisse ernst zu nehmen.

Zwischen dem ersten Impuls, sich Hilfe zu holen und tatsächlich bei uns anzurufen, vergeht manchmal ein halbes Jahr. Aber so sind wir Menschen. Denn für viele ist Hilfe annehmen gleichbedeutend mit Schwäche zeigen. Wir Berater:innen sehen das anders, für uns ist es ein Beweis von Stärke, sich Unterstützung zu holen, wenn wir nicht mehr alleine weiterkommen.

 Antje Lumma-Sellenthin: Und die Beratungen laufen eigentlich immer gut, da die Menschen aus eigenem Antrieb zu uns kommen, mit ihren Hoffnungen und Erwartungen. Und die erfüllen primär nicht wir, die erfüllen sie sich selbst. Einfach dadurch, dass sie auf uns zugegangen sind. Und bereit sind, sich zu entwickeln. Schade ist nur, dass Frauen sich ihre Entwicklungsschritte und ihre Stärken oft schlecht reden und generell ihr Licht unter den Scheffel stellen.


 Welche Tipps haben Sie hier als „Ferndiagnose“ für Mitarbeiterinnen?

 Anette Bangert: Mehr Selbstvertrauen, und das in uns fest verankern. Wenn wir Frauen daran arbeiten, geht es uns auch besser.

 Antje Lumma-Sellenthin: Als ich für dieses Interview angefragt wurde, war meine erste spontane Reaktion: ‚Oh Gott, bin ich dafür geeignet!?‘ Aber dann habe ich mich gefragt: ‚Wie alt will ich denn noch werden, bis ich mir mehr zutraue?‘ …

 Anette Bangert: Wunderbares Beispiel!...

 Antje Lumma-Sellenthin: … und das geht anderen Frauen auch so: Der Wunsch ist da, sich weiter zu entwickeln, sich Dinge zu trauen. Hier setzen wir an. Denn letztlich führt Beratung immer zu Entwicklung. Sobald man einen Schritt macht und redet, ist das ein kleiner Entwicklungsschritt. In welche Richtung, das bestimmt sie selbst.

Dr. Antje Lumma-Sellenthin, Psychologin und Systemische und Familientherapeutin betreut in und um Koblenz (Region West) unter anderem REWE-Märkte und Logistik.

Anette Bangert, Diplom-Sozialpädagogin und Familientherapeutin, betreut REWE- und toom-Mitarbeitende in Nordbayern.

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