Neue Arbeitsformen

"Neue Arbeitsformen" müssen heute in Verbindung mit Lean-Management-Konzepten als Reaktion auf den zunehmenden internationalen Wettbewerbsdruck gesehen werden. Lean (= Schlankes) Management beinhaltet die Reduzierung von Kosten für Arbeitskräfte, Fertigungsfläche, Material, Lagerhaltung und Arbeitsmittel. Das Managementkonzept zielt auf die Erhöhung der Produktionsflexibilität, Erhöhung der Produktivität und Reduzierung von Durchlaufzeiten. Dabei sind zwei zentrale Strategien von Bedeutung: Dezentralisierung von Verantwortung und indirekte bzw. ergebnisorientierte Steuerungsformen. Um adäquat auf die Flexibilitätsanforderungen des Marktes mit einer hohen Innovationsrate, raschem Produktwechsel, kurzen Lieferzeiten und hoher Produktqualität reagieren zu können, werden Hierarchien abgebaut und Planungs- und Entscheidungsbefugnisse in die Verantwortung der wertschöpfenden Bereiche verlagert. Die Steuerung und Koordinierung dezentraler Organisationseinheiten erfolgt nicht mehr über Anweisungen, sondern über indirekte ergebnisorientierte Steuerungs- und Kontrollformen. Die Steuerung erfolgt durch Zielvereinbarungen auf der Grundlage der Festlegung konkreter Leistungskennzahlen (z. B. auf Produktivität, Liefertermine, Produktentwicklungszeiten, Innovation, Kostenreduzierung oder Gewinnsteigerung). Durch Selbststeuerung und mehr Eigenverantwortung auf der Basis von Zielvereinbarungen werden die Beschäftigten so direkt den Anforderungen des Marktes ausgesetzt. Beispiel "Gruppenarbeit in der Fertigung": Gruppenarbeit wird heute im Produktionsbereich in erster Linie zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen eingeführt. Sie ist in unterschiedlichen Gestaltungsformen vorzufinden. Das Spektrum reicht von fremdbestimmter bzw. tayloristisch strukturierter Gruppenarbeit bis zur teilautonomen und selbstbestimmten Gruppenarbeit. Teilautonomen Gruppen werden komplexe, ganzheitliche Aufgaben (z. B. Komplettmontage) zur weitgehend selbstständigen Bewältigung übertragen. Die Verantwortung für die Einhaltung von Lieferterminen, Produktivität, Qualität, die Minimierung von Produktionsfehlern sowie die ständige Verbesserung der Arbeitsprozesse liegt bei der Arbeitsgruppe. Beispiel "Projektarbeit": Projektarbeit zählt zu den weit verbreiteten neuen Formen der Arbeit in wichtigen Funktionsbereichen klassischer Industrieunternehmen, wie z. B. Forschung, Planung und Produktentwicklung. Zur Bearbeitung neuartiger und komplexer Problemstellungen, beispielsweise bei der Produktentwicklung, die mit begrenzten Ressourcen vor allem an Personal, Zeit und Kosten durchgeführt werden muss, werden zeitlich befristet Projektteams eingesetzt. Die Zusammensetzung der Projektteams erfolgt in Abhängigkeit von der Aufgabenstellung fach- und hierarchieübergreifend. Beispiel "Freiberufliche Telearbeit": Im Zuge der personellen "Verschlankung" und von Prozessen der Dezentralisierung von Unternehmen zur Minimierung von Kosten gewinnen Auslagerungen von Funktionen und lockere vertragliche Arrangements zwischen Unternehmen und externen Personalressourcen an Bedeutung (Outsourcing). Jenseits der Normalarbeitsverhältnisse entstehen zunehmend neue Arbeitsformen, in denen sich so genannte "Freelancer" (auch als "Job-Nomaden" bezeichnet) in freiberuflicher Tätigkeit ihr Einkommen verdienen. Dabei kommt der Telearbeit eine besondere Bedeutung zu. Die selbstständige und mobile Form der Telearbeit beinhaltet nach Meinung von Experten das größte Wachstumspotenzial. Unter Telearbeit werden auf Informations- und Kommunikationstechnik gestützte Tätigkeiten verstanden, die nicht an eine zentrale Betriebsstätte gebunden sind, sondern mobil oder von zu Hause aus verrichtet werden. Die Kommunikation zwischen Telearbeitern und Auftraggeber erfolgt i. d. R. telefonisch oder durch elektronische Kommunikationsmittel. Die freiberuflichen Telearbeiter müssen ihre vertraglich vereinbarten Arbeitsleistungen und Aufgabenumfänge ergebnisorientiert und zu feststehenden Terminen erbringen und dabei möglicherweise auch für verschiedene Unternehmen tätig sein. Sie verfügen über eine hohe berufliche Autonomie, müssen aber auch rasch auf unvorhergesehene Anforderungen der Auftraggeber reagieren. Psychische Belastungen und Gesundheitsrisiken Mit neuen Arbeitsformen vor dem Hintergrund von Lean Management gehen eine Reihe psychischer Belastungen einher, die zu Überforderungen und psychischen Fehlbeanspruchungen der Beschäftigten führen können. Zwar kann sich mit der Verlagerung von Verantwortung auf untere Hierarchieebenen der Freiraum in der unmittelbaren Arbeitstätigkeit erhöhen. Doch steht dem Zugewinn an Freiheit auf der einen Seite ein wachsender Anforderungs- und Verantwortungsdruck auf der anderen Seite gegenüber. Die Spielräume der weitgehend selbstregulierten Arbeit gehen für die Beschäftigten stets mit Risiken der Überforderung durch Zeitdruck und geringer Personalbemessung einher. Das führt zu einer Erhöhung der Arbeitsintensität. Gruppenarbeit kann für die Beschäftigten zu einer abwechslungsreicheren Arbeit, mehr Handlungs- und Entscheidungsspielräumen, Erweiterung der fachlichen Qualifikationen der Gruppenmitglieder und auf Grund der gestiegenen Verantwortung zu einer höheren Identifikation mit ihrer Arbeit führen. Ob es den Gruppenmitgliedern aber gelingt, die Anforderungen zu erfüllen, ohne dass psychische Fehlbeanspruchungen und gesundheitliche Beeinträchtigungen entstehen, hängt davon ab, inwieweit sie Einfluss auf die zeitlichen Auftragsvorgaben und die Personalbemessung sowie auf die Leistungskennziffern (z. B. Terminvorgaben, Produktivitäts-, Qualitäts-, Innovationsziele) haben. Auch Projektarbeit kann zu einer hohen Identifikation mit der beruflichen Aufgabe und Arbeitzufriedenheit führen. Die Zusammenarbeit von Spezialisten aus unterschiedlichen Fachabteilungen eröffnet die Chance, voneinander zu lernen und Probleme gemeinsam zu lösen. Andererseits kann die Arbeitsintensität auf Grund von Leistungsverdichtung verbunden mit Zeitdruck in der Projektarbeit höher als in der Linienarbeit sein. Das ist dann der Fall, wenn die Laufzeit von Projekten zu knapp kalkuliert ist und definitiv einzuhaltende Endtermine feststehen oder Zielmodifikationen während der Laufzeit vorgenommen werden. Zeitknappheit tritt für die Beschäftigten auch dann auf, wenn sie gleichzeitig in mehreren Projekten arbeiten. Psychisch belastend wirkt es sich aus, wenn die Beschäftigten verschiedene Aufgaben parallel bearbeiten müssen, ohne dass sich auch der zur erfüllende Erwartungs- und Zielerreichungsdruck im jeweiligen Aufgabenbereich reduziert, und zudem noch das Tagesgeschäft bewältigt werden muss. Zeitdruck und nicht bewältigte Aufgaben führen zu persönlichen Schuldzuweisungen und Teamkonflikten und in der Folge zu Stress. Die mit Projektarbeit verbundene Intensivierung der Arbeit kann zu Mehrarbeit in Form von Überstunden und Wochenendarbeit führen und auch die alltägliche Lebensführung beeinträchtigen. Das psycho-soziale Belastungsspektrum von Projektarbeit kann in Einzelfällen zu Symptomen wie Depressivität, Schlaflosigkeit, psychosomatischen Beschwerden, Konzentrationsschwierigkeiten, Arbeitsunlust oder mangelndem Selbstwertgefühl führen (vgl. Bollinger 2001). Studien über psycho-soziale Belastungen von freiberuflichen Telearbeitern zeigen, dass sie über eine hohe Autonomie in ihrer Arbeit verfügen und sie die Tätigkeit als in hohem Maße herausfordernd, abwechslungsreich und befriedigend erleben. Im Vergleich zu Beschäftigten an betrieblichen Arbeitsplätzen haben sie mehr Freiheiten, ihren Arbeitsrhythmus selbstbestimmt zu organisieren. Allerdings steht diese Zeitsouveränität im Kontrast zur vom Auftraggeber geforderten Flexibilität, rasch auf unvorhersehbare Anforderungen zu reagieren und ergebnis- und terminorientiert zu arbeiten. Dies führt zu Stressfaktoren wie Zeit- und Leistungsdruck und einer überdurchschnittlich langen Arbeitszeit. Um den Kundenanforderungen nachzukommen, arbeiten Freelancer auch an Sonn- und Feiertagen oder auch in der Nacht. Auch der Austausch mit Kollegen ist kaum gegeben. Häufig hat die Arbeit Vorrang vor ihrem Privat- bzw. Familienleben. Diejenigen Freelancer, die über 48 Stunden pro Woche (ein nicht geringer Teil arbeitet sogar wöchentlich über 60 Stunden) und unter ständigem Leistungsdruck arbeiten, weisen die höchste Erholungsunfähigkeit (extremes Arbeitsengagement, fehlende Distanz zur Arbeit) mit signifikant hohem Gesundheitsrisiko (z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen) auf. Hohe Unsicherheit und Existenzangst sind zudem weitere psychische Belastungen, die auf Schwankungen der Auftragslage und einen sehr eingeschränkten sozialrechtlichen Schutz zurückzuführen sind (vgl. Ertel/Kauric 2000). Präventionsmaßnahmen Sind Lean-Management-Konzepte als Quelle psychischer Fehlbelastungen und Gesundheitsrisiken zu betrachten, dann müssen solche Konzepte und die damit verbundene betriebliche Leistungspolitik kritisch bewertet werden. So sollte die Belegschaftsstärke so gewählt werden, dass die Arbeit bei "Normalleistung" auszuführen ist. Überstunden sollten eher die Ausnahme sein. Im Rahmen von Gruppenarbeit müssen die Leistungsbedingungen human gestaltet werden, um Überforderungen der Beschäftigten zu vermeiden. Wichtig ist, dass erreichbare Leistungsziele zusammen mit den Gruppen vereinbart werden (z. B. zeitliche Auftragsvorgaben, Produktivitäts- oder Qualitätsziele). Die Vereinbarung von Soll-Leistungen muss auch notwendige Zeiten für Erholungsphasen und Gruppengespräche beinhalten. Bei der Leistungsbemessung muss auch berücksichtigt werden, ob es sich beispielsweise um ältere Beschäftigte, Leistungsgewandelte oder Schwerbehinderte handelt. Neben der Regulierung der Leistungsvorgaben ist auch die Gestaltung weiterer Rahmenbedingungen von Gruppenarbeit, wie z. B. ein gerechtes und motivierendes Prämienentlohnungssystem und systematische Qualifizierungen der Gruppenmitglieder im Bereich neuer bzw. veränderter Aufgaben und sozialer Kompetenzen (Kommunikationsfähigkeit, Konfliktbewältigung), entscheidend für eine funktionierende Gruppenarbeit und das Wohlbefinden der Beschäftigten. Zur Vermeidung von hoher Arbeitsintensität und Arbeitsdruck im Rahmen von Projektgruppenarbeit sollten die Beschäftigten Einfluss auf die Laufzeit von Projekten, die Personalbemessung oder individuelle Aufgabenumfänge haben. Zur Prävention potenzieller Belastungen ist zudem eine professionelle Projektdurchführung wichtig. Die Aufgaben, Zuständigkeiten und Kompetenzen sollten klar definiert sein. Die zeitlichen Spielräume zur Bewältigung der Arbeitsaufgaben müssen angemessen sein (vgl. Bollinger 2001). Das "Abladen" der Verantwortung für das Zeitmanagement von Führungskräften auf die Beschäftigten, ohne dafür Sorge zu tragen, ob diese die ihnen übertragenen Aufgabenkomplexe und -umfänge in ihrer Arbeitszeit auch tatsächlich bewältigen können, beinhaltet keinen verantwortlichen Umgang mit Ressourcen. Projektmitarbeiter sollten in Methoden der Planung und Durchführung von Projekten qualifiziert und in neue und fachfremde Themengebiete eingearbeitet werden. Zum Zweck des Gesundheitsschutzes könnte auch die Berichtspflicht über den Projektstatus gegenüber Entscheidungsträgern um human- und belastungsbezogene Parameter ergänzt werden. Hierdurch werden psychische Belastungen und Überforderungen für das obere Management frühzeitig sichtbar, und Maßnahmen zur Verbesserung des Gesundheitsschutzes können rechtzeitig eingeleitet werden (vgl. Bollinger 2001). Bei freiberuflicher Telearbeit können zum Gesundheitsschutz über Internet auch Maßstäbe für zumutbare Arbeitsanforderungen und Arbeitszeiten vermittelt werden (vgl. Ertel 2000). Zeitmanagement hilft, sich vor Überarbeitung zu schützen. Selbstständige Telearbeiter können sich heute über Internet bei Beratungsbüros und Online-Telefonen Informationen und Beratungsleistungen zu allen Fragen der Selbstständigkeit einholen. Zusätzlich könnten auf diesem Wege auch soziale Unterstützungsnetzwerke geschaffen werden, durch die sich Telearbeiter nicht nur Transparenz über ihre allgemeinen Arbeitsbedingungen (z. B. Abschluss von Honorarverträgen, Fragen der Sozialversicherung oder Rechtsschutz), sondern auch über ihre Arbeitsbelastungen (z. B. überlange Arbeitszeiten) verschaffen können.

Quellen

www.arbeit-und-gesundheit.de